Risse, manchmal kaum fühlbar und schwer zu entdecken. Manchmal so groß und tiefgreifend, dass sie nicht zu übersehen sind. All diese Risse sind Ausdruck der Zeit, in der wir leben. Einer Zeit von Brüchen, der wir uns als Individuum wie auch als Gesellschaft gegenübersehen. Brüche von Lebensentwürfen, von gewohnten Sicherheiten, von Wertvorstellungen, von sozialen Beziehungen und ebenso Brüchen in der Arbeitswelt.

Welche Folgen haben diese Brüche?

Im gesellschaftlichen Zusammenleben ist ein Zustand der Unruhe bemerkbar. Wir sind gezwungen, uns mit Brüchen emotional und rational auseinanderzusetzen, uns abzugrenzen, zu öffnen, uns neu zu positionieren. Wir erleben gravierende Veränderungen in unserem Alltag und in unserer Lebenswelt, die unter anderem durch Themen wie Digitalisierung, Klimawandel, Hyperkapitalismus sowie durch eine Konfrontation mit Komplexität und ästhetischen Vielfalten maßgeblich beeinflusst werden.

Wie gehen Menschen damit um und welche Rolle spielen Utopien?

Um sich durch herausfordernde Zeiten zu navigieren, begeben sich immer mehr auf die Suche nach ihren individuellen Utopien – in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und Ausprägungen.

Wie alle Utopien kontextualisieren individuelle Utopien das Bedürfnis eines Menschen nach Veränderung in eine bestimmte Richtung. Dabei versinnbildlichen sie eine Form der Kritik an dem Bestehenden. Sie repräsentieren individuelle Ansätze, um einen Weg aus der momentanen Situation zu finden oder sich durch sie hindurchzubewegen. Dies geht oft mit Sehnsucht und Hoffnung, aber ebenso mit Frustration und Angst einher.

Was versteht man unter utopischer Energie?

Die treibende Kraft hinter dem Wunsch nach Veränderung in eine bestimmte Richtung bezeichne ich als utopische Energie.

Unter utopischer Energie verstehe ich einen Zustand transformativen Drangs, der sich aus dem utopischen Potenzial des Menschen in Interaktion mit dem utopischen Potenzial seiner Lebenswelt ergibt. Je höher die Summe der utopischen Potenziale, je höher der Grad an utopischer Energie.

Der transformative Drang wiederum findet eine energetische Ausformung im utopischen Denken. Wir verfügen über die Fähigkeit, uns eine Vorstellung vom Besseren zu machen und danach zu streben. Der Mensch hat demnach das ihm unbewusste sowie bewusste Vermögen bzw. Potenzial, utopisch zu denken. Dieses energetische Potenzial ist ein immanenter Bestandteil unserer menschlichen Existenz.

Die Entwicklung der Menschheit ist immer schon mit der Verbindung zu ihrem Umfeld einhergegangen. Diese Einbettung in unsere Lebenswelt findet im physischen (z. B. Ökosystem) sowie unserem sozialen Umfeld (z. B. Kultur) statt. Als sinnlich-emotionale, kognitiv-soziale Organismen sind wir untrennbar mit unserer Lebenswelt verbunden. Wir wirken auf sie ein und sie wirkt auf uns zurück. Dieser Kontextbezug findet sich ebenfalls in Bezug zur Utopie. Jede Utopie wird aus ihrer Zeit geboren, wurde durch die Vergangenheit beeinflusst und wird auf die Zukunft einwirken. Es ist also folgerichtig, das utopische Potenzial der Lebenswelt in das Konzept der utopischen Energie einzubeziehen. Dabei fungieren Mensch und Lebenswelt als Energieträger und -quelle zugleich.

Welche Bedeutung hat die Form?

Das utopische Potenzial des Menschen und das utopische Potenzial seiner Lebenswelt stehen in enger Verbindung. Sie interagieren miteinander. Durch diese Interaktion gewinnt die utopische Energie letztlich ihre Form.

Hierbei ist die Betrachtung des Übergangs vom Formlosen zur Form durch das Formgebende und Formnehmende bedeutend. Das Formlose beschreibt das Potenzial, welches grundsätzlich vorhanden, jedoch nicht greifbar und noch nicht gerichtet ist. Das Formgebende umfasst den Übergang vom Formlosen hin zur Form. Es beinhaltet den Beginn der Ausformung und das Ausformen selbst. Dieser Vorgang kommt einem „Erheben“ aus dem Unbewussten zum Bewussten gleich. Die Form trägt, obwohl manifestiert, dennoch eine Flüchtigkeit in sich, die durch das Formnehmende wiederum zum Formlosen umgewandelt werden kann.

Zur Ausformung des Zustands transformativen Drangs ist das Raum geben entscheidend. Veränderung in eine bestimmte Richtung bedarf einer Reflexion des Gegenwärtigen. Wenn die utopische Energie sich als Impuls geformt hat, ist es wichtig, für die Entwicklung dieses Impulses ebenfalls Raum zu geben.

Warum ist das Utopische so wichtig?

Bei allerlei, teils berechtigter Kritik sollte der Wert des Utopischen nicht unterschätzt werden. Denn es unterstützt das Generieren von Denkfiguren und öffnet den Raum für das Fragen und Infragestellen. Wollen wir bewusst Risse erzeugen, wie sollen sie verheilen oder vernarben? Wie reagieren wir als Individuum, wie reagieren wir als Gesellschaft auf Brüche und deren Folgen und – nicht zuletzt – wie können und wollen wir gestaltend eingreifen?

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